Sie nehmen das Gegebene wahr und begrüßen es innerlich. Damit sind insbesondere Störungen und Unerwartetes gemeint! Die Irritation begrüßen, anstatt sie sich fortzuwünschen: So ersparen Sie sich Ärger, der Ihnen wertvolle Energie entzieht, und bleiben souverän in der Lösungsorientierung. Wenn eine Schülerin oder ein Schüler den Unterricht unterbricht und auf ihr/sein Verständnisproblem aufmerk sammacht, ist es gut, dass sie/er das offen benennt. Dann kann darüber gesprochen werden. Das positive Erleben der einzelnen Schülerin oder des einzelnen Schülers färbt auf das Klassenklima ab. Die Sorge, dass alle Schüler*innen mit Verständnis fragen kommen und Ihren Unterrichtsfluss stören, erweist sich in der Praxis als eher unbegründet.

Sie verstehen das Verhalten von Schüler*innen, Eltern und Kolleg*innen in ihren situativen Kontexten und bewerten es nicht losgelöst davon. Veränderungssituationen, wie Umzug, Rückkehr nach Krankenhausaufenthalt, Trennung der Eltern oder der Eintritt in eine neue Klasse, sind für Schüler*innen kritische Ereignisse, die sich auf ihr Verhalten auswirken. Sie sind weniger aufmerksam, trauen sich weniger zu, warten stärker ab und brauchen mehr Zeit. Szenisches Verstehen heißt auch, das Verhalten eines Menschen im konkreten Kontext als Leistung anzuerkennen, selbst wenn es in der äußeren Form unhöflich, ruppig, heftig oder unkontrolliert daherkommt. Mit der normativen klassischen Bewertung kann man die jeweils erbrachte Leistung nicht würdigen. Wenn eine Flüchtlingsmu!er mit Hidschab zur Sprechstunde kommt und nichts sagt, bleibt die Leistung zu würdigen, dass sie überhaupt gekommen ist.

Von allen Bedürfnissen ist das nach Sicherheit das Grundlegende, denn Unsicherheit macht Angst. Schüler*innen haben das Bedürfnis, angstfrei nachzufragen, wenn sie etwas nicht verstanden haben, ohne bloßgestellt zu werden. Eltern haben das Bedürfnis, in ihren Sorgen ernst genommen zu werden und über ihre Schwierigkeiten offen zu reden, ohne Abwertung zu e$ahren. Lehrerkolleginnen und -kollegen haben das Bedürfnis, in ihren unterschiedlichen Erfahrungen und Schwierigkeiten mit Schüler*innen respektiert zu werden. Beziehungen bauen sich über die Kommunikation mit dem fühlenden Selbst auf. Die bisherige schulische Praxis kennt zahlreiche Situationen, in denen sich Schüler*innen, Eltern und Kolleg*innen bewertet fühlen. Sie erfahren Zuschreibungen und werden an normativen Erwartungen gemessen. Wenn eine Schülerin oder ein Schüler etwas nicht kann, ist sie/er eine „schlechte“ Schülerin oder ein „schlechter“ Schüler. Eltern, die mit Sorgen kommen, sind „anspruchsvolle, kritische“ Eltern. Die schulische Welt ist voll von Etikettierungen. Diese stehen der Kommunikation mit dem fühlenden Selbst im Wege.

Entscheiden Sie sich für den Potenzialblick. Erkennen Sie das Verhalten von Schüler*innen, Eltern und Kolleg*innen als situative Leistungen, dann können sie es auch wertschätzen. Eine Schülerin, die trotz ausführlicher Erklärungen der Lehrperson sagt, sie habe es nicht verstanden, erbringt eine starke Leistung, indem sie sich überwindet zu sagen, was sie braucht, und eine Bloßstellung riskiert. Das ist das Mutige an ihrem Verhalten und sollte gewürdigt werden. So fühlt sich die Schülerin ernst genommen, verstanden und unterstützt. Damit haben Sie nicht nur die Lernbereitschaft der Schülerin gefördert, sondern auch das Klassenklima positiv beeinflusst.